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Pillenfrei

Wir feiern 60 Jahre Antibabypille – doch niemand ist in Partystimmung. Es gibt einen Trend: weg von der Verhütung mit der Pille. Gefühlsschwankungen, hohe Kosten und depressive Verstimmungen werden als Gründe für den Boykott genannt. Ist der Widerstand berechtigt oder lediglich eine Modeerscheinung? Eine Odyssee von drei Meter langen Beipackzetteln und Hormonen, die auf dem Kopf stehen.

Mein Blick wandert dem kleinen Pfeil auf dem rosa Blister entlang. Er zeigt die korrekte Einnahmerichtung auf. Daneben stehen abgekürzt die Wochentage. 

Ich bin sechzehn und in der Blüte meiner Pubertät. Zur Feier meines ersten Freundes wurde mir von der Frauenärztin die Pille verschreiben. Hinterfragt habe ich das Ganze nicht. All meine Freundinnen nehmen die Pille – das ist normal.

Der Befreiungsschlag

1960 ging die erste Antibabypille über den Ladentisch – eine Revolution. Sie galt als Befreiungsschlag und ermöglichte Frauen mehr Unabhängigkeit. Dank zuverlässigem Empfängnisschutz konnten Schwangerschaften aufgeschoben werden, um Beruf und Schule mehr Zeit zu widmen. Tatsächlich war damals der häufigste Grund für einen Studienabbruch eine unerwünschte Schwangerschaft. Doch gilt die Pille auch als Symbol einer sexuellen Revolution. Die Frauen entdeckten ein neues Körpergefühl. So diente Sex nicht mehr nur der Fortpflanzung, sondern wurde offen thematisiert und ausgelebt. 

Mögliche Nebenwirkungen: Depressionen, Thrombosen und Benommenheit. Irritiert versuche ich den Zettel wieder zusammen zu falten. Die Packungsbeilage ist gross – riesig. Nach dem dritten Anlauf ist sie in der weissen Schachtel verstaut. Die erste Einnahme katapultiert mich schnurstracks ins Bett. Ich fühle mich müde und aufgelöst. Nach einiger Zeit hat sich mein Zustand normalisiert. Ich vertrage die Pille mittlerweile sogar richtig gut – glaube ich. 

 

Happy no Birthday

Gemäss dem schweizerischen Verhütungsbericht nutzen 80 % der sexuell aktiven Personen in der Schweiz eine Empfängnis-verhütung. Die Antibabypille ist nach dem Kondom die am häufigsten verwendete Verhütungsmethode.
Doch das Image der Pille bröckelt. Der Verhütungsbericht zeigt auch, dass der Anteil von Frauen, welche mit der Pille verhüten, rückläufig ist. So betrug die Anzahl der Verbraucherinnen im Jahre 2002 einen Drittel. Innert fünf Jahren sank die Zahl auf knapp achtzehn Prozent. Die Pille feiert dieses Jahr ihren 60. Geburtstag. Ist es bald Zeit für die Pension?  

Das Smartphone blinkt auf. «Es ist Zeit, die Antibabypille zu nehmen» steht in Grossbuchstaben auf meinem Bildschirm. Ohne die Benachrichtigungen würde ich sie zigmal vergessen. Es ist ermüdend, sich jeden Tag daran zu erinnern. Du denkst, eine Achterbahnfahrt ist aufregend? Da hast du wohl noch nie die Pille zu spät eingenommen, sie vergessen oder den Blister verlegt. Ein wahrer Adrenalinschub im Alltag. Ob das männliche Geschlecht weiss, wie nervenzerreissend das sein kann? Wohl kaum. 

 

(Un)sicherheit

Auch Doris Luppa von der Fachstelle sexuelle Gesundheit Aargau fällt die zunehmende Skepsis gegenüber der Pille auf. Sie merkt dies vor allem bei sexualpädagogischen Einsätzen an der Oberstufe: immer mehr jugendliche Paare nutzen das Kondom als Verhütungsmethode. Trotzdem muss erwähnt werden, dass es auch Frauen gibt, welche zufrieden mit der Einnahme der Pille sind, meint sie. «Wenn die Sicherheit vor einer Schwangerschaft für eine Frau an erster Stelle steht, ist die Antibabypille immer noch das Mittel der Wahl». 

Die Pille ist mit einem Pearl-Index zwischen 0.1 und 2 in der Tat eines der sichersten Präparate auf dem Markt. Der Pearl-Index zeigt auf, wie verlässlich ein Verhütungsmittel ist. Je tiefer die Zahl, desto zuverlässiger ist die Methode.

«Die ständigen Gefühlsausbrüche habe ich nicht mehr ausgehalten», sagt Lena. Wir sitzen in unserem Stammlokal in trauter Frauenrunde. Lena hat vor einer Weile die Pille abgesetzt und erzählt uns von ihren Erfahrungen. Mir fällt auf, dass wir früher nie über solche Themen gesprochen haben. Mit dem Alter nimmt der Austauschbedarf zu. Unser steigender Rotweinkonsum begünstigt diese Entwicklung wohl auch. 
Lena hat sich fürs Absetzen entschieden, da sie unter starken Nebenwirkungen gelitten hat. Zudem plagte sie die Angst, durch die langjährige Einnahme nicht mehr fruchtbar zu werden. Die Pille nehmen alle. Ist dem nun nicht mehr so? Das erste Mal hinterfrage ich die Wahl meiner Verhütungsmethode.  

Freiheit mit Nebenwirkungen

Schlagzeilen über die negativen Aspekte der Pille überhäufen sich. Im Fokus stehen dabei die Nebenwirkungen: vom Lustkiller bis hin zu Thrombosen und psychischen Beeinträchtigungen. Was die meisten kaum wissen, zwei von 10’000 Frauen erleiden pro Jahr ein Blutgerinnsel, welches durch die Einnahme der Pille ausgelöst wurde. So erschütterte der Fall Céline 2008 die Schweiz. Céline erlitt nach der Einnahme der Antibabypille «Yasmin» ein solches Blutgerinnsel. Die Folge: eine schwere Lungenembolie. Das einst kerngesunde Mädchen ist seither schwerstbehindert. 
Wie gefährlich ist das Präparat wirklich? In den letzten Jahren bestätigten mehrere Studien mögliche Nebenwirkungen wie depressive Verstimmungen oder ein erhöhtes Thromboserisiko. Die Pille befreite einst die Frauenwelt, nun möchten sich die Frauen anscheinend von ihr befreien. 

Nun bin ich 23 und konsumiere immer noch. Der Ovulations-hemmer begleitet mich bereits seit sieben Jahren. Mittlerweile erscheint es mir sinnlos, täglich künstliche Hormone zu mir zu nehmen. Während meine Skepsis steigt, häufen sich auch die negativen Berichtserstattungen. In meinem Freundeskreis, wird vermehrt auf natürliche Verhütungsmethoden gesetzt. Dennoch komme ich nicht von der Pille los. Zu gross ist die Angst vor Veränderungen. Ich habe Angst vor spriessenden Pickeln und dem Comeback meiner Pubertät. Bin ich abhängig von der Lifestyledroge? 

 

Frauensache

Die gewonnene Unabhängigkeit der Antibabypille, brachte auch einen Nachteil – Verhütung ist Frauensache. Neben dem Aspekt der Nebenwirkungen wollen sich viele auch von der Verantwortung befreien, allein für die Empfängnisverhütung zuständig zu sein. Für Männer gibt es jedoch kaum Alternativen auf dem Markt. So sind Vasektomie und Kondom die einzigen Möglichkeiten für ihn. Eine Pille für den Mann gibt es (noch) nicht. An dieser wird seit den Siebzigern geforscht, anscheinend ohne Erfolg. Einige Versuche scheiterten, da die Teilnehmer unter Nebenwirkungen litten – dieselben die Frauen seit 60 Jahren plagen. Die Letztverantwortung bleibt wohl weiterhin Sache des weiblichen Geschlechts.

Die Tiefpunkte nehmen zu. Tränen, plötzliche Gefühlsausbrüche und depressive Verstimmungen. Was klingt wie Ausschnitte einer Telenovela, gehört mittlerweile zu meinem Alltag. Die Hormone stehen Kopf. Triftige Gründe für dieses Szenario finde ich nicht. Könnte die Pille schuld an meiner Misere sein? Fakt ist, dass mein Studentenbudget durch die monatlichen Ausgaben von CHF 25.- leidet. Das wären immerhin sieben Dunkin Donuts oder 2.5 Gläser Rotwein.
Ich frage mich, wer ich ohne die künstlichen Hormone bin. Little Miss Sunshine oder bleibt doch alles beim Gleichen? Die Gründe fürs Absetzen häufen sich. So wage ich den Schritt aus der Abhängigkeit. Pickel ihr könnt kommen!

 

Kratzer am Image

Auch auf Social Media geht die Debatte nicht spurlos vorbei. Tausend junge Frauen teilen unter dem Hashtag #pilleabsetzen ihre Storys. Bekannte Influencerinnen wie Anni oder Babsi Böck berichten offen über Sex und Verhütung. Auch Babsi hat sich nach zehn Jahren «Konsum» dazu entschieden, auf künstliche Verhütung zu verzichten. Sie thematisiert auf Instagram ihren Beweggründen und Erfahrungen. „Habt keine Angst die Pille abzusetzen! Ihr werdet euch nochmal ganz anders kennenlernen“ schreibt sie unter ihren Post. Es gibt jedoch auch Influencerinnen, die bewusst für das Lifestyleprodukt «Pille» werben. Doch woher kommt das? Um das Image der Pille zu retten, betreiben Pharmaunternehmen neu Influencer-Marketing. Damit soll das Image des Präparates verbessert und Vertrauen aufgebaut werden. Hier ist bedenklich, dass die Markenbotschafterinnen keinen medizinischen Background vorweisen. Mit ihren Posts haben sie dennoch grossen Einfluss auf ihre Follower.

Seit drei Monaten bin ich nun pillenfrei. Die Pickel bleiben aus, stattdessen holen mich die Regelschmerzen ein. Hier ein Dankeschön an meine Plüschbettflasche, welche nun vermehrt zum Einsatz kommt. Neben den Schmerzen verspüre ich jedoch auch die positiven Körpersignale intensiver. Ob gestiegene Libido oder das Gefühl von wahrer Freude, ich fühle mich nicht mehr fremdbestimmt. Eine abschliessende Bilanz kann ich wohl erst nach einigen Monaten machen. Trotzdem bin ich glücklicher denn je und bereue den Schritt nicht. Obwohl das Präparat als sehr sicher gilt, hat es auch bedenkliche Nachteile. Mein Fazit: Erst nachdenken und dann die Pille schlucken. Den rosaroten Blister habe ich offiziell in die Pension geschickt.

Der Pasta-Party-WhatsApp-Gruppenchat

Anna hat die WhatsApp-Gruppe «Pasta-Party» erstellt.

Anna hat Michelle hinzugefügt.


Anstatt kunterbunte Geburtstagseinladungen per Post zu erhalten, wird man heute lediglich plump in eine WhatsApp-Gruppe hinzugefügt – ein Fluch der Digitalisierung. Die Einladungen in Papierform konnte man wenigstens dann lesen, wenn man Lust dazu hatte, sie je nach Kultstatus des Sujets an die Pinnwand klemmen oder einfach direkt ins Altpapier werfen. Mit WhatsApp-Nachrichten ist das heute leider nicht mehr möglich. Man kann sich den Nachrichten nicht lange entziehen, denn früher oder später muss man online gehen. Sei es, um Mama mitzuteilen, dass man die lange vermisste Tupperdose bei der Arbeit gefunden hat oder weil man die achtminütige Herzschmerz-Sprachnachricht der besten Freundin nicht mehr ignorieren kann. Die Ich-habe-die-Nachricht-nicht-bekommen-Ausrede gilt seit der Einführung der Häkchen bei WhatsApp sowieso nicht mehr.

 

Anna: Hallo zusammen! Wie ihr wisst, feiere ich am Sonntag meinen Geburtstag und ihr seid alle herzlich zum Pasta-Plausch eingeladen.


Einen Pastaplausch zu organisieren ist ungefähr so kreativ wie eine Erlebnisbox zum Geburtstag zu verschenken. So eine Box, in der man zwischen Eseltrekking, Iglu-Übernachtung und Zaubershow für zwei wählen kann. Also meist genau die Dinge, die man auch mit Gutschein nie machen würde. Wahrscheinlich nicht einmal, wenn man dafür bezahlt würde. Menschen, die Erlebnisboxen verschenken, sind auch diejenigen, die bei Verabredungen zu früh an deiner Haustür klingeln. Die Ausrede, nicht zu Hause zu sein, kann man dann nicht mehr anbringen, und in zwei Minuten lässt sich die Bude auch nicht mehr auf Vordermann bringen. Der Standardsatz «Es ist ein bisschen unordentlich» fällt dann weg, denn es ist wirklich unordentlich – ein Horrorszenario. Von solchen Leuten sollte man sich lieber fernhalten.

 

Anna hat das Profilbild gewechselt.

Ich tippe auf die Gruppeninfo und schaue mir das Titelbild an. Es ist wohl das erste Foto eines Nudelgerichts, das die Google-Bildsuche zu bieten hat. Zumindest konnte Anna eines auswählen, das nicht mit dem Wasserzeichen einer kostenpflichtigen Bilddatenbank versehen war. Leute, die Bilder mit Wasserzeichen verwenden, sind auf der Kontraintelligenz-Skala nahe bei denen, die Erlebnisboxen verschenken.

Unter dem Profilbild ist aufgelistet, wen Anna noch zum Pastaplausch eingeladen hat. Da stehen die Namen der ganzen Mädchenbande aus der Oberstufenzeit. Ich mag sie alle sehr, aber da ich die Einzige bin, die ihr Liebesglück noch nicht gefunden hat, fühle ich mich bei diesen Treffen eher wie ein Deko-Objekt. Man nennt mich auch «Ich-gebe-mir-die-Kante-Tante». Vielleicht liegt es daran, dass ich jedes Mal vorsorglich eine Flasche Wein mit in die Runde bringe, um Themen wie Heiraten, Kinderkriegen und Hypotheken besser ertragen zu können – cheers!

 

Sophie schreibt: Grossartig, ich komme sehr gerne zum Essen. Danke für di Einladung süsse! (Mehrere Emojis mit Herzaugen)


Ich mag ja, wie bereits erwähnt, alle. Ausser Sophie, Sophie mag ich nicht. Sie ist diese Art von Person, die einem bei Herzschmerz eine Box voller Schokolade schenkt. Ob es dir besser geht, fragt sie nie. Erkunden tut sie sich hingegen lediglich, ob du die Box bereits aufgegessen hast. Wieso? Vielleicht, weil sie will, dass wir tendenziell alle dicker sind als sie (Sophie ist nicht dick). «Hey, schön dich zu sehen!» ersetzt sie jeweils durch den Satz «Hast du wieder abgenommen?» und beim Essen wird Low-Carb und ungesüsster Tee präferiert. Das schlimmste ist jedoch, dass ich die ganze Box voller Schokolade damals innerhalb von zwei Stunden aufgegessen habe und wie bereits erwähnt, mein Liebesleben so gut läuft, dass ich ständig Boxen voller Schokoladen essen könnte. Um die Extrapfunde zu vermeiden, erzähle ich in der Runde also primär nie, wie es bei mir privat so läuft.

 

Sarah eröffnet den Chat «Geburtstagsgeschenk für Anna»

Sarah hat Michelle hinzugefügt.


Ein weiterer Fluch der Digitalisierung: Die Geburtstags-geschenke-Gruppen welche neben jeder Geburtstags-einladungs-Gruppe eröffnet werden. Diese signalisieren, dass die Jagd nach dem passenden Geschenk nun offiziell eröffnet ist. Ich frage mich stets, wieso man Menschen, die alles haben oder sich Wünsche selbst finanzieren könnten, überhaupt noch etwas schenkt. Mit jedem steigenden Altersjahr wird auch die Suche nach dem passenden Mitbringsel eine Herausforderung. Nach Beautybox, Brunch-Gutschein und einer 0815-Orchidee,  bleibt keine grosse Auswahl mehr übrig.

Zu meinem Geburtstag gab es eine glitzernde Badekugel von Lush. Auf der Verpackung stand die Beschreibung «Sex Bomb – Bringt dich in Stimmung». Lustig fand ich dies nicht und anstatt mich in Stimmung zu bringen, war ich danach noch schlechter Gelaunt, als ich sonst schon bin. Der produzierte Schaum reichte aus, um mir vorstellen zu können, wie sich ein Schneesturm wohl anfühlen musste – das Badezimmer war komplett weiss. Die Glitzerpartikel klebten zudem noch Tage später an meinem Körper.

 

Sarah schreibt…


Ich wäre generell für die Abschaffung von Geburtstagen. Ab dem zwanzigsten Lebensjahr sind diese nur noch eine Tortur für die Gesellschaft. So hat man stets den Druck, etwas Phänomenales auf die Beine stellen zu müssen. Dies steht im Widerspruch zum Fakt, dass man es sich am Geburtstag doch eigentlich sollte gut gehen lassen. Wieso muss man das ganze Spektakel also meist auch noch selbst berappen? Hat dies denn noch niemand hinterfragt?

Ein weiterer Tropfen auf den heissen Stein ist das alljährliche Singen des Geburtstagliedes. Niemand mag es, alle tun es und was zum Geier soll man während den monotonen Klängen von Happy Birthday in fünf Sprachen mit sich anfangen? Ich habe beschlossen, meinen Geburtstag immer Mitte Juli nachzufeiern. Da ich im tiefen Winter das Licht der Welt erblickt habe, hat jeder Verständnis, wenn ich das Fest auf ein Datum mit warmen Temperaturen verschiebe. Mir kommt hierbei zugute, dass mein Plan meist bis Mitte Juli auch schon wieder vergessen worden ist.


Sarah: Wir könnten Ana doch eine Erlebnisbox schenken?

Michelle hat den Gruppenchat verlassen.

 

Jahrestag bei Ikea

Wohnzimmerabteilung

Till sitzt auf einem riesigen, knallgelben Ohrensessel. Die beiden Auspolsterungen im Kopfbereich der Bestie sind wohl der Grund für dessen Namensgebung. Ohrähnlich sind sie dennoch nicht. Mit dem leichten Vorwärtsschieben des Einkaufs-wagens signalisiere ich ihm, dass wir nun weiter gehen, was er gekonnt ignoriert. Till platziert seine abgewetzten New Balance Sneakers auf dem Hocker, der farblich zum gelben Sessel passt und ebenfalls scheusslich ist.

Heute ist unser dritter Jahrestag. Aussenstehende könnten meinen, es sollte der Letzte sein, da wir uns für einen Ikea-Besuch entschieden haben. Bekanntlich entfacht das schwedische Einrichtungshaus Beziehungskrisen und Streit-gespräche. Ob dies heute der Fall sein wird, weiss ich nicht. Ob ich für Ikea-Fleischbällchen meine Beziehung aufs Spiel setzen würde, weiss ich.

„Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen in die nächste Abteilung.

 

Alles für den Arbeitsplatz

Till entdeckt das elektrische Stehpult, welches er zuvor im Ikea-Katalog, der heiligen Bibel der Einrichtungsliebhaber, erspäht hat. Seit einer Woche redet er ununterbrochen davon. Dass man(n) so viel Freude an einem Brett mit zwei Beinen haben kann, befremdet mich. 

Er drückt seit einer gefühlten Ewigkeit den Knopf mit dem Pfeil, der nach oben zeigt. Das Pult bewegt sich in Zeitlupe empor. Erwartungsvoll sieht Till mich an und meint: „Na, habe ich zu viel versprochen?“ Ich entgegnete mit: „Ja hast du.“

„Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen in die nächste Abteilung.

 

Esszimmerabteilung

Wir sind umgeben von Esstischen und Sitzgelegenheiten. Till streckt mir ein Preisschild entgegen, auf dem gross LISABO steht. „Schau mal, der Stuhl heisst wie du“. Ich, Lisa bin wenig begeistert. Mein Name verdient es nicht, einen Holzstuhl zu sein. Jeder platziert sein Hinterteil drauf. Nicht einmal ein schützendes Polster hat es dazwischen. Nichts an LISABO ist ehrbar oder schön. Passender wäre eine Deckenbeleuchtung. Genauer genommen ein edler Kronleuchter, welcher auf alle hinabschaut.

„Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen in die nächste Abteilung.

 

Schlafzimmerabteilung

Till kann sich für alles begeistern. Diese Eigenschaft schreibt man normalerweise Frauen zu, gerade wenn es um den Ikea-Besuch geht. Ich bin nur noch genervt. Wie kann man sich über kühlende Matratzenschoner freuen?

Kurz aus den Augen verloren finde ich Till inder Matratzen-abteilung wieder. Ich schäme mich, da er systematisch auf den Bettpolstern herumhüpft, um deren Widerstand zu testen. Ich tue so, als würde ich ihn nicht kennen und mustere stattdessen die Namen auf den Preisschildern. Auf einem steht Taschenfederkernmatratze Hamarvik. Hamarvik. Der Name soll wohl andeuten, was auf der Matratze geschehen könnte. Vielleicht würde sie auch unser Liebesleben ankurbeln. Till springt auf Hamarvik und bewegt sich skurril. Dies bestätigt mir, dass meine Lustlosigkeit wohl nicht mit unserer Matratze zusammenhängt.

 „Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen in die nächste Abteilung.

 

Küche und Kochen

Till ist mir nicht gefolgt. Während ich auf ihn warte, lese ich die Schilder der Küchenutensilien durch. TILLBAKA steht auf einer Kaffeetasse. Ich mache Till nicht auf seinen Namensvetter aufmerksam. Der Gegenstand passt gut zu ihm. Das Behältnis ist klein, rund und einfach. „Oh, die Tasse heisst ja wie ich! Die würde gut zu meiner Tassensammlung passen.“ Ich drehe mich entkräftet um. „Noch eine? Du hast nicht alle
Tassen im Schrank!“. Till stimmt dem zu, er stelle seine Tassen ja auch nicht in den Schrank, sondern in die Glasvitrine im Wohnzimmer.

Ich realisiere, dass wir mitten im Pärchen-Fluch stecken. Könnte
es heute tatsächlich unser letzter Jahrestag sein? Nein, die Beziehung muss halten. Jedenfalls noch bis zum Hotdog stand. Acht Veggie-Doggs lassen sich unmöglich allein tragen.

„Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen in die nächste Abteilung.


Kerzen und Pflanzen

Ich schaue mir die Kerzenhalter an. Aus der Ferne höre ich, wie Till mir etwas zuruft. Ich kann ihn nicht orten, da mir eine riesige Plastik-Stechpalme im Einkaufswagen die Sicht versperrt. Ich schiebe die Blätter zur Seite, um den Blickkontakt herzustellen. Er wiederholt sich: „Darf ich den Blumentopf in den Wagen legen?“

„Till, den brauchen wir nicht.“ Schlagartig merke ich, wie er die Stirnfalten runzelt und sich eine geballte Wut über seinen Körper ausbreitet. „Ach, ja und was ist mit all dem Zeug in deinem Wagen?“, brüllt er. Ich schaue verdutzt. Erst will er etwas in meinen Einkaufswagen legen und nun behauptet er die Topfuntersetzer, zwei Plastikpalmen, der Kosmetiktuchbehälter, die ovale Kuchenform, der kleine Beistelltisch, die Teelichter, die blaue Bettwäsche mit gelben Punkten, das Kallax Regal mit vier Fächern, die Bilderrahmen im 8er-Set und die vier Fusselrollen brauchen wir nicht? Absurd.

„Till, wir brauchen nichts“.
Ich schiebe den Wagen zur Kasse.